Prügelnde Prinzen und renovierte Paläste

Bei einem Spaziergang in Stettin

Bei einem Spaziergang in Stettin

Ich sitze in Stettin und bin fasziniert. Wie sich – nur durch ein Überschreiten einer Ländergrenze – Ambiente, Atmosphäre; Stadtbilder ändern. Besonders bizarr ist dies bei Stettin, da die Stadt bis 1945 ja deutsch war, und sich demnach vom Stadtbild her nicht so sehr von Städten in Deutschland unterscheiden dürfte. Zur genauen Geschichte des Wiederaufbaus kann ich wenig sagen; ihm sind natürlich viele sozialistisch angehauchte Betongebäude im Stadtbild zu “verdanken”; aber auch ehemals deutsche Gebäude – selbst aufwändig renovierte – fühlen sich beim Betrachten für mich als Teil einer anderen Kultur an. Liegt es an der Umgebung, ist meine Wahrnehmung nur durch die Erwartungshaltung “ich bin in einem anderen Land!” “eingefärbt”?

Verlassenes Gebäude

Verlassenes Gebäude

Manches hier wirkt etwas heruntergekommen. Heruntergekommener als in Deutschland? Das klänge nach einem böse verallgemeindernden Klischee. Woran liegt es? Kann es allgemein an der wirtschaftlichen Lage liegen – ist weniger Geld als in Deutschland vorhanden? Oder habe ich nur die falschen Straßen gesehen und dadurch ein nicht repräsentatives Bild gekriegt (es gibt ja auch in deutschen Städten heruntergekommene Gegenden)? Doch genug vom Straßenbild; was ist mit der Mentalität in Polen? Dies ist ein kritischer Begriff. Ein Land; eine geographische Region, soll die geographische Lage signalisieren, wie die Mentalität der Mehrheit sei, die hier lebt? Wird es dadurch definitiert? Man käme bei solchem Denken schnell in unschön generalisierende Begriffe, deshalb lieber neutrale Beobachtungen dazu:

In Europa finde ich es faszinierend, zuweilen schon bizarr, wie sich an Grenzen Sprache, Kultur, alles ändern kann. Ohne fließende Übergänge. Gewiss, es gibt Regionen wie den Elsass; zweisprachig, etc… Aber der Großteil der Grenzen, die ich in Europa bisher überschritt, wirkten wie scharfe Trendlinien. Die gleiche Straße – Gebäude sehen gleich aus wie ein paar Meter davor – aber plötzlich ab einer bestimmten Linie alle Schilder in anderer Sprache. Die Passanten reden in anderer Sprache. Etc. Ein fließender Übergang wäre wohl ‘natürlicher’, aber schwer zu organisieren. Wer gehört zu wem? Welcher Mensch zu welchem Staat? Sofern man daran glaubt, dass nebeneinander existierende  Staaten statt eines einzigen großen, schwer definierbaren Gebildes ein sinnvolles Konstrukt sind, stellt sich die Frage. Man braucht in dem Fall “harte” Grenzlinien, da überall fließende Übergänge schwer zu verwalten wären. Wo spräche man welche Amtssprache, etc.? Beschilderung – ab welchem Punkt nur in einer Sprache; etc.? Aber es beeindruckt mich, wie extrem solche Grenzen in der Praxis funktionieren. Dass sich ab der Linie oft gefühlt sofort so viel ändert.

A propos ändern: Das Hotel in dem ich hier wohne ist ein sehr altes in einem Park, der von großen – wohl nach dem Krieg ausgebauten – Straßen umgeben ist. Das Hotel selbst – mit klingendem Namen “Park Hotel” – wurde um 1900 errichtet und war zunächst anscheinend hauptsächlich ein sehr edles Restaurant. Es hat den Fin-de-siècle Charme behalten, ist ausgezeichnet renoviert (sehr stilgerecht, notwendige Modernisierungen sind unauffällig), und trotzdem wirkt es “polnisch”. Obwohl das Haus offenbar noch so aussieht, wie es im deutschen Stettin vor dem 1. Weltkrieg gebaut worden war (wie ich auf Postkarten sah, die in der Lobby eingerahmt hängen). Obwohl das Personal perfekt Englisch und Deutsch spricht. Es fühlt sich trotzdem “polnisch” an für mich. Das muss die Erwartungshaltung im Kopf sein, die die Wahrnehmung ‘färbt’. (Wobei ich “polnisch” explizit weder ab – noch sonst wie wertend meine. Am ehesten meine ich es als neutralen Begriff “nicht deutsch”.)

Das Essen war genau, wie ich es mag; leicht dekadenter Stil, wieder “Fin-de-siècle” mit leicht modernem Einschlag… Einschlag… Als ich heute auf dem Weg nach Stettin durch Hannover fuhr, sah ich die “Ernst-August-Galerie”. Ich überlegte zunächst, ob sie nach dem Ernst August von Hannover benannt war, der durch einige Prügelgeschichten und Pinkeln in der Öffentlichkeit eine Weile in der Presse war. Dann erfuhr ich: es war nicht er, sondern sein Vorfahre gleichen Namens aus dem 17. Jahrhundert. Wobei der Vorfahre zu seiner Zeit wohl auch gepinkelt hatte. Da ich aber nicht dabei war und es wohl auch keine gesicherte Forschung zu dem Thema gibt, kann ich nur recht sicher sein, dass der Vorfahre (wie es die menschliche Natur vorschreibt) auch ab und an diese Aktion ausführen musste.

Das Park Hotel

Das Park Hotel

Geprügelt hat er wohl auch – und wahrscheinlich um einiges härter als der Ernst August aus den Medien. Aber dafür habe ich gar keinen Beweis – außer meinen Vorurteilen über das brutale 17. Jahrhundert, in dem Prügeln wohl politisch korrekter als heute war. Unbelegte Vorurteile im Kopf. Die die Sicht einfärben. Egal ob es um Städte, Mentalitäten oder Pinkeln geht. Menschliche Natur.

2 thoughts on “Prügelnde Prinzen und renovierte Paläste

  1. Jona

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